Mit Ruhe, Beobachtung und Nähe zur Selbstveränderung – Teil 2/3

(Gesunde) Kinder wissen meistens ziemlich gut, was sie wirklich wollen. Sie wissen, wann sie Hunger oder Durst haben. Sie wissen, was ihnen schmeckt. Sie besitzen Körpergefühl, sie können z.B. genau einschätzen, ob und wie weit sie einen Kletterturm erklimmen können. Oder ob sie auf dem Spielplatz von der großen Kiste in den Sand springen mögen, oder doch lieber von der Kleinen.
Ebenso können sie soziales, zwischenmenschliches Verhalten oft sehr genau einschätzen und sich eine reflektierte Meinung dazu bilden. Es ist eine wichtige Aufgabe von uns Erwachsenen, den Kindern zu zu hören und zu entschlüsseln, was genau sie wollen. Das hilft uns, besser zu verstehen, wie unsere Kinder »ticken«. Und es nützt den Kindern, denn sie sollen und wollen sich auch selbst gut kennen lernen und verstehen.
Gestehen wir den Kindern die Kompetenz, sich selbst und ihr eigenes Gefühl gut zu kennen, zu!

Im letzten Post habe ich beschrieben, wie unsere Motte ein von einer guten Beziehung getragenes und für sie wichtiges Gespräch mit mir gesucht hat. Heute möchte ich beschreiben, wie ich dieses Gesprächsangebot bemerkt habe, worauf ich geachtet habe und warum ich so reagiert habe, wie beschrieben.

Inhaltsverzeichnis

Was ist passiert – eine kleine Situationsanalyse

Aus einer relativ entspannten Morgensituation (Frühstück zu Hause) heraus, sind wir an einen Ort gegangen, der für unsere Motte mit starken Emotionen verknüpft ist: die Kita, insbesondere die Garderobe. Dort ist es oft voll und laut. Es riecht anders als zu Hause. Es gibt viel zu sehen. Es ist ein Ort des Umbruchs, morgens gibt es den Abschied von den Eltern, nachmittags trennt man sich von Freunden und Erziehern. Im Kita Alltag erlebt man dort den Situationswechsel zwischen Gruppenraumzeit und Rausgehen – oder man startet den Ausflug zur Sporthalle, zur Busfahrt oder zum Krötensammeln. Die Sinneseindrücke sind mit Emotionen und Erinnerungen des Umbruchs verknüpft. Die Garderobe ist emotional heiß!
An diesem Ort waren nun nur wir beide – ganz in Ruhe – und Motte hat einen Zugang zu Gefühlen und zu einer Situation gefunden, die irgendwo in ihrem Inneren schliefen. Durch die vertraute Zweisamkeit hat sie den Mut gefunden, sich diese näher anzuschauen. Das konnte ich an ihrer körperlichen Reaktion beobachten: das Weiten der Pupillen, die Veränderung in Gestik und Mimik, eine Veränderung der Stimmung.

Ruhe bewahren – Aufmerksam bleiben – Nähe anbieten

Ich habe diese Veränderungen wahrgenommen und darauf reagiert. Ich habe mich auf Mottes Augenhöhe begeben, den Blickkontakt gehalten und nonverbal signalisiert, dass ich ein offenes Ohr für die Dinge habe, die ihr auf dem Herzen liegen.
Ich habe beobachtet, dass sie erst das Verhalten eines anderen Kindes bemängelt hat und dann, als ich weiter Offenheit signalisiert habe, auch ihr eigenes (Fehl?)Verhalten mit beschrieben hat. Ich hatte den Eindruck: Hier kommt etwas, dass man nicht leichtfertig preisgibt – denn so ein offener Umgang mit eigenen Fehlern macht verletzlich und angreifbar. Ich war mir des großen Vertrauens, das sie mir gegenüber zeigte, in dieser Situation voll bewusst.
Die Ernsthaftigkeit in der Stimmung der Tochter war geradezu greifbar. Ich habe mir bewusst vorgenommen, nicht zu werten, was aus Motte heraussprudelt. Ich habe mir Zeit genommen und versucht, zu erforschen, was genau sie da fühlt – und ab zu warten, wo es sie hinführt (nicht uns, nur sie!).

Reflexhafte Bewertungen beiseiteschieben – Zuhören

Ich habe mit Absicht nicht gesagt: »Oh, das macht man aber nicht! Ihr müsst euch aber auch mal benehmen! Na, da habt ihr aber bestimmt Ärger gekriegt! Ich hab doch schon tausend mal gesagt, dass…« Ich habe zugehört.
Motte beschrieb die Situation, wie im letzten Post berichtet, sehr detailliert und plastisch. Eine klassische – ich bewerte das doch mal eben – »Ich-habe-was-ausgefressen-wofür-ich-schon-Ärger-bekommen-habe-aber-ich-habe-es-meinen-Eltern-noch-nicht-erzählt«-Situation. Bewusst habe ich das ganz neutral aufgenommen, ich habe Sicherheit, einen geschützten Rahmen vermittelt. Meine Gestik und Mimik habe ich ruhig und entspannt gehalten. Ich habe sie in ihrer Verletzlichkeit, in ihrer Offenheit gelassen. So konnte sie die ganze Situation wortwörtlich darstellen; mit viel Körpereinsatz, wenn ihr die Worte fehlten. Nachdem sie mit Erzählen fertig war, fragte ich sie nach ihrer Meinung, nach ihrer ganz persönlichen Vorstellung, wie sie mit dem Thema gerne umgehen möchte – und habe sie dann wieder formulieren lassen.

Zugang zu inneren Werten – Bestärkung durch Nähe

Sie beschrieb eindrucksvoll, wie sie sich dafür einsetzen kann, dass so ein Streitthema nicht wieder auftritt, oder wie sie sich aus der Situation herausziehen könnte. Sie schafft sich selbst Handlungsmöglichkeiten. Etwas abstrakter gesprochen haben wir zwei unterschiedliche Lösungsstrategien für den Konflikt diskutiert – Konfrontation oder Flucht. Ich habe sie gefragt, mit welcher Strategie sie sich wohler fühlt, sie hat sich für die konstruktive Konfrontation entschieden.
Danach habe ich sie durch das Anbieten von Nähe in dieser Entscheidung bestärkt: Ich habe sie einfach in den Arm genommen. Die Botschaft hier sollte sein: »Du hast das gut durchdacht! Ich freue mich für dich, dass du zu einer für dich passenden Lösung gekommen bist! Du kannst das!« Und sie hat durch den liebevollen Abschluss signalisiert, dass sie sich sehr wohl fühlt mit dieser Entscheidung.

Loslassen

Nichtsdestotrotz habe ich im Nachhinein das Gefühl, das hier auch noch Luft nach oben gewesen wäre, ich habe für mein Gefühl zu schnell auf eine »gute Lösung« gedrängt. Was ist aber überhaupt eine »gute Lösung«? Ich hätte nach der Frage: »Und wie fühlst Du Dich damit?«, schon aufhören können. Ich hatte da selber etwas im Kopf. Nämlich, dass es eine Lösung sein sollte, bei der niemand angegriffen wird, Nichts kaputt geht und Keiner Ärger bekommt – und ich später nicht zum Elterngespräch muss. Eine schöne, langweilige Lösung. Aber ist das überhaupt Mottes Lösung? Oder nur meine? Ich weiß es nicht. Hätte ich Motte hier etwas mehr Raum gegeben, hätte sie vielleicht noch mehr Handlungsoptionen entwickelt.

Ausblick

Kinder können und wissen überraschend viel – manchmal stolpert man über weise Einstellungen und Entscheidungen, von denen man sich als Erwachsener gerne eine Scheibe abschneiden möchte. Durch Beobachten, Raum und Sicherheit geben kann man sie dabei unterstützen, Handlungsoptionen zu entwickeln. Das Anbieten von Nähe kann die Kinder darin bestärken, Vertrauen in ihre selbst entwickelten Konfliktlösungsstrategien zu gewinnen.

Ihr findet diesen Ansatz interessant und möchtet es auch ausprobieren? Nächsten Dienstag gibt es zu diesem Thema eine kleine Übersicht und Checkliste zum Lesen, Inspiriert-Werden, Ausdrucken oder Vergessen, ganz nach Geschmack.
Oder habt ihr bereits Erfahrung in dieser Art der Entwicklungsbegleitung? Ich freue mich, von Euren Erfahrungen und Gedanken (zum Beispiel unten in den Kommentaren) zu hören!

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit!

    Euer Christoph

EDIT: Hier nochmal alle Links: Teil 1, Teil 2 und Teil 3.

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[…] Zum Nachlesen findet Ihr die Links zu Teil eins, der beobachteten Veränderungssituation, hier und zu Teil zwei, der etwas ausführlicheren Beschreibung der Verhaltensweisen von Elt und Kind, hier. […]

[…] Hier nochmal alle Links: Teil 1, Teil 2 und Teil […]